* 18 *
Milos Feier entpuppte sich als Bankett, das peinlicherweise an Deck abgehalten wurde, direkt vor den Augen der Schaulustigen auf dem Kai. Ein roter Baldachin mit goldenen Troddeln wurde gespannt und darunter eine lange Tafel aufgebaut, festlich gedeckt mit weißem Tischtuch, goldenem Besteck, Bergen von Früchten (die nicht alle echt waren) und einem Meer von Kerzen. Rings um den Tisch standen sechs Stühle, auf deren hohen Lehnen etwas saß, das verdächtig nach kleinen Kronen aussah. Milo hatte am oberen Ende Platz genommen, mit Jenna zu seiner Rechten. Septimus saß neben Jenna, und Beetle, in seinem Admiralsrock dem Anlass entsprechend feierlich gekleidet, war irgendwie am unteren Tischende neben dem schlafenden Feuerspei gelandet, wo ihn gelegentlich ein Drachenhauch anwehte. Links von Milo saß Snorri mit NachtUllr, der ruhig zu ihren Füßen lag, und neben ihr Nicko.
Milo bestritt das Gespräch allein – was auch gut so war, denn alle anderen waren viel zu verlegen, um etwas zu sagen. Die Menge auf dem Kai unter ihnen schwoll immer mehr an und verfolgte das Spektakel mit belustigtem Interesse, so wie Menschen im Zoo Schimpansen beobachteten. In der Hoffnung auf einen mitfühlenden Blick versuchte Jenna, Septimus auf sich aufmerksam zu machen, doch der saß nur da und starrte eisern auf seinen Teller. Jenna schaute in die Runde, aber niemand sah ihr in die Augen, nicht einmal Beetle, der anscheinend etwas höchst Interessantes oben auf dem nächsten Mast entdeckt hatte.
Jenna fühlte sich schrecklich unbehaglich. Langsam bedauerte sie es, dass sie Milo in der zweifelhaften Spelunke getroffen hatte. Doch zu dem Zeitpunkt war ihr alles so aufregend erschienen – die Einladung auf das Schiff, Nickos Freude über den Besuch auf der Cerys, das schöne und nach den letzten zermürbenden Tagen so willkommene Gefühl, umsorgt zu werden, in einem bequemen Bett schlafen zu können und am Morgen aufzuwachen und zu wissen, dass man in Sicherheit war. Ganz zu schweigen von ihrer Begeisterung, als ihr Milo eröffnet hatte, dass die Cerys jetzt ihr gehöre, auch wenn er ihr die Freude später etwas verdorben hatte, als er erklärte, dass ihr das Schiff selbstverständlich erst richtig gehören könne, wenn sie fünfundzwanzig werde, also das Alter erreiche, in dem man sich frühestens als Eigner eintragen lassen könne. Das war, wie Jenna dachte, typisch für beinahe alle Geschenke Milos – er behielt immer einen Teil zurück, gab nie etwas ganz aus der Hand. Mit einem Mal schämte sie sich. Sie saß hier mit drei von den Menschen, die ihr am meisten bedeuteten – Snorri zählte sie nicht dazu –, und zwang sie, diese peinliche Vorstellung über sich ergehen zu lassen, und das nur, weil sie sich von Milos Zuwendung hatte blenden lassen.
Das Bankett ging quälend langsam voran. Milo unterhielt sie mit seinen Seefahrergeschichten, von denen sie viele bereits kannten und die anscheinend immer damit endeten, dass er über andere triumphierte.
Und während Milo erzählte und erzählte, ließ der Schiffskoch die ausgefallensten Gerichte auftischen, eines kunstvoller garniert und höher auf den Tellern aufgetürmt als das andere, nicht unähnlich den Perücken, die von den Beamten in Hafen Zwölf getragen wurden. Jeder Gang wurde von den Matrosen – die jetzt ihre weißblauen Abenduniformen trugen – unter großem Trara serviert und, was noch schlimmer war, von einer schrecklich peinlichen Rede Milos eingeleitet, der darauf bestand, jedes Gericht einem von ihnen zu widmen, wobei Jenna den Anfang machte.
Als es an den Nachtisch ging – der Beetle gewidmet war –, war die Menge der Schaulustigen in ausgelassener Stimmung und gab Kommentare ab, die nicht besonders schmeichelhaft waren. Beetle hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst, und seine Ohren begannen zu glühen, als er sah, wie ein Matrose aus der Luke auftauchte und stolz den Nachtisch brachte. Es war eine außerordentlich merkwürdige Kreation – eine große Platte mit etwas Schwarzem und Wabbeligem, möglicherweise eine Qualle, aber ebenso gut hätte es ein Pilz sein können, den man unten im Laderaum gepflückt hatte. Ehrfürchtig stellte der Matrose die Platte mitten auf den Tisch. Alle schauten verdutzt und erkannten dann mit Schrecken, dass der Nachtisch wie ein gekochter, geschälter und auf einem Bett aus Seegras angerichteter Riesenkäfer aussah – oder womöglich sogar einer war.
Milo genoss den Augenblick. Das Glas in der Hand, begleitet von vereinzeltem Applaus und Pfiffen aus der Menge unten, stand er auf, um das Gericht Beetle zu widmen, der sich ernsthaft mit dem Gedanken trug, über Bord zu springen. Doch im selben Moment, als Milo den Mund öffnete und beginnen wollte, machte Feuerspei einen Satz.
Es war ein Augenblick, den Beetle noch lange, noch sehr lange in Ehren halten sollte.
Feuerspei war mit einem riesigen Hunger aufgewacht und nicht wählerisch. Ihm war jetzt alles recht. Er schob seine Schnauze an Beetle vorbei und ließ seine lange grüne Zunge über den Tisch schnellen. Snorri, die noch immer nervös war, schrie. Milo sprang auf und schlug mit seiner Serviette nach Feuerspeis Nase, während der Drache mit einem langen geräuschvollen Schlürfen den Käferpudding mitsamt Serviette in sich hineinsaugte. Aber von einem Pudding in Käferform und einem feinen Stück Leinen wurde ein ausgehungerter Drache nicht satt. Und so saugte Feuerspei in der Hoffnung, noch etwas Fressbares zu finden, einfach weiter, und begleitet von einem Geräusch, wie wenn Wasser in einem Gully vergluckert, nur tausendmal lauter, begannen die edlen Gedecke vom Tisch zu verschwinden.
»Nicht die Kelche!«, rief Milo und riss die nächsten Silberkelche an sich. Eine Lachsalve schallte von der rasch anwachsenden Menge herüber. Als Milo das Leinentischtuch in Feuerspeis sabberndem Maul verschwinden sah, ließ er die Kelche fallen, packte sein Ende des Tischtuchs und zog. Jubel und Anfeuerungsrufe schallten aus der Menge herauf.
Niemand sonst am Tisch rührte einen Finger. Ein leises Grinsen umspielte Septimus’ Mundwinkel, als er sah, wie sein Teller allen Bemühungen Milos zum Trotz den Tisch hinunterwanderte. Er schielte zu Nicko, und zu seiner Überraschung und Freude entdeckte er verräterische Anzeichen unterdrückter Heiterkeit. Und dann verschwand mit einem ohrenbetäubenden Zischen alles, was auf dem Tisch stand, in Feuerspeis Schlund. Nicko prustete explosionsartig los und fiel mit einem Lachkrampf vom Stuhl.
Snorri, die einen ernsteren Nicko gewöhnt war, sah verdutzt zu, wie er sich auf dem Deck wälzte und schüttelte. Vom Kai antwortete lautes Gelächter, das sich wie eine Welle ausbreitete.
Milo blickte bestürzt auf die Trümmer seines Festes. Und Feuerspei blickte enttäuscht auf den leeren Tisch. In seinem Magen schepperten scharfkantige Gegenstände, und sein Hunger war noch nicht gestillt. Milo, der sich nicht ganz sicher war, ob die Fresslust des Drachen vor Menschen haltmachte, packte Jenna an der Hand, zog sie vom Stuhl hoch und wich mit ihr zurück.
Jenna riss sich los. »Nicht«, fuhr sie ihn an.
Milo blickte verwirrt und ein wenig gekränkt. »Vielleicht«, schlug er vor, »sollten wir eine andere Unterkunft für deinen Drachen suchen.«
»Er ist nicht mein Drache«, entgegnete Jenna.
»Nicht? Aber du hast doch gesagt...«
»Ich weiß. Aber das hätte ich nicht tun sollen. Ich bin nur die Navigatorin. Es ist Seps Drache.«
»Aha. Nun, in dem Fall wirst du verstehen, dass das Tier den Quarantänebestimmungen des Handelspostens unterliegt. Solange es an Bord ist...«
»Er heißt Feuerspei«, korrigierte Jenna.
»Na schön, solange Feuerspei an Bord ist, finden die Bestimmungen keine Anwendung, aber sobald es ...«
»Er.«
»... sobald er einen Fuß ...«, Milo spähte nach unten, um festzustellen, ob Feuerspei auch wirklich Füße hatte, »... sobald er einen Fuß an Land setzt, wird er unter Quarantäne gestellt.«
Septimus erhob sich. »Das wird nicht nötig sein. Wir fliegen jetzt. Danke, dass Sie uns aufgenommen haben, aber jetzt, wo Feuerspei wach ist, müssen wir los. Habe ich recht, Beetle?«
Beetle war gerade damit beschäftigt, sich Feuerspeis nasser Schnauze zu erwehren. »Pfui, Feuerspei. Oh ... ja, das müssen wir. Aber danke, Mr. Banda. Danke, dass wir auf Ihrem Schiff übernachten durften. Ich meine, auf Jennas Schiff. Es war wirklich ... interessant.«
Milo gewann seine Fassung zurück. Er verbeugte sich höflich. »Nichts zu danken, Schreiber.« Er wandte sich an Septimus. »Aber ihr habt doch nicht die Absicht, sofort zu fliegen? Ich befahre seit vielen Jahren die sieben Weltmeere, und ich spüre, dass ein Sturm in der Luft liegt.«
Septimus hatte über die sieben Weltmeere so viel gehört, dass sein Bedarf für längere Zeit gedeckt war – und viel zu viel über Milos Fähigkeiten, das Wetter vorherzusagen.
»Wir werden darüber hinwegfliegen«, sagte er und trat zu Beetle. »Habe ich recht?«
Beetle nickte etwas unsicher.
Milo stutzte. »Aber bei einem Sturm gibt es kein darüber weg.«
Septimus zuckte mit den Schultern und tätschelte dem Drachen die Nase. »Dir macht so ein kleiner Sturm nichts aus, nicht wahr?« Feuerspei schnaubte, und ein Faden Drachensabber troff auf Septimus’ kostbare lila Streifen und hinterließ einen dunklen Fleck, der nie mehr herausgehen sollte.
Fünf Minuten später hockte Feuerspei wie eine dicke Möwe auf der Steuerbordseite der Cerys und blickte aufs Meer hinaus. Und auf der Backbordseite drängte sich eine größere und aufgeregtere Menge denn je. Septimus hatte seinen Platz in der Pilotenkuhle hinter dem Nacken des Drachen eingenommen, und Beetle saß weiter hinten in Richtung Schwanz, eingezwängt zwischen den Satteltaschen. Doch der Navigatorensitz war noch leer.
Jenna stand neben Feuerspei, den Umhang fest um den Leib geschlungen, um sich vor dem kalten Wind zu schützen, der in den Hafen zu blasen begann. »Bleibt heute Nacht hier«, bat sie Septimus. »Feuerspei kann noch eine Nacht an Deck schlafen. Ich möchte nicht, dass du und Beetle in die Dunkelheit hinausfliegt.«
»Wir müssen«, erwiderte Septimus. »Feuerspei wird heute Nacht kein Auge zutun. Er wird nur Ärger machen. Und wenn er in Quarantäne gesteckt wird – daran mag ich gar nicht denken. Und überhaupt, wir möchten jetzt los, nicht wahr, Beetle?«
Beetle hatte die dunklen Wolken beobachtet, die vor dem Mond dahinjagten. Er war sich unschlüssig. Draußen vor der Mole bauten sich die Wellen immer höher auf, und er fragte sich, ob Milo mit seiner Warnung vor einem heraufziehenden Unwetter nicht richtig lag. »Vielleicht hat Jenna recht, Sep. Vielleicht sollten wir heute Nacht noch hierbleiben.«
Milo mischte sich ein. »Ihr müsst bis morgen warten. Die Mannschaft wird den Drachen heute Nacht am Hauptmast festketten ...« Beetle, Septimus und Jenna tauschten einen entsetzten Blick. »Dann kann er nichts anstellen. Und morgen früh veranstalten wir an Deck ein großes Frühstück, um euch stilvoll zu verabschieden. Was haltet ihr davon?«
Septimus wusste genau, was er davon hielt. »Nein danke. Fertig machen, Feuerspei!« Feuerspei breitete die Flügel aus und neigte sich vor in den Wind. Die Cerys legte sich bedenklich nach Steuerbord, und jemand an Land schrie auf.
»Vorsicht!«, rief Milo und hielt sich an einem Handlauf fest.
Septimus blickte zu Jenna hinab. »Kommst du nun mit, Navigatorin?«, fragte er.
Jenna schüttelte den Kopf, doch in ihrem Gesicht lag ein Bedauern, das Beetle Mut machte. »Jenna«, sagte er, »komm doch mit!«
Jenna war hin- und hergerissen. Sie wäre gern mitgeflogen, aber sie hatte mit Milo vereinbart, auf der Cerys zurückzufahren. Und Nicko war ja auch noch da. Sie wollte bei ihm sein, wenn er nach Hause segelte. Unschlüssig schaute sie zu ihm hinüber. Er lächelte sie gequält an und legte den Arm um Snorri.
»Bitte komm mit uns, Jenna«, sagte Beetle einfach nur, ohne sie zu bedrängen.
»Sie kommt selbstverständlich nicht mit«, erklärte Milo barsch. »Ihr Platz ist hier, auf ihrem Schiff. Und bei ihrem Vater.«
Das gab den Ausschlag. »Allem Anschein nach ist es doch nicht mein Schiff«, sagte Jenna und funkelte Milo an. »Und du bist nicht mein richtiger Vater. Das ist Dad.« Damit schlang sie die Arme um Nicko. »Tut mir leid, Nicko. Ich gehe. Gute Reise. Wir sehen uns dann in der Burg.«
Nicko grinste und reckte die Daumen nach oben. »Ich wünsch dir was, Jenna«, sagte er. »Pass auf dich auf.«
Jenna nickte. Dann fasste sie nach oben, ergriff den Navigatorenstachel und zog sich hoch auf den Platz direkt hinter Septimus. »Es kann losgehen, Sep.«
»Warte!«, schrie Milo. Aber Feuerspei hörte nur auf seinen Piloten und manchmal – wenn er gut aufgelegt war – auf seine Navigatorin. Aber mit Sicherheit nicht auf jemanden, der vorgeschlagen hatte, ihn über Nacht in Ketten zu legen.
Alles in Hafen Zwölf blieb stehen, um Feuerspeis Start mitzuverfolgen. Hunderte Augenpaare beobachteten, wie sich der Drache aus dem Schiff lehnte, die Flügel in die Höhe streckte und sich dann mit einem Abwärtsschlag langsam in die Lüfte erhob. Ein kräftiger Abwind aus heißer, nach Drache riechender Unterflügelluft fegte über das Deck. Milo und seine Seeleute husteten und würgten, während vom Kai her Beifall aufbrandete.
Feuerspei hob abermals die Flügel und gewann mit langsamen kräftigen Schlägen stetig an Höhe. Dann legte er sich in den Wind, beschrieb eine weite Kurve, drehte knapp über Masthöhe eine Runde über dem Hafen und flog über die Mole hinaus. Für einen kurzen Augenblick brach der Mond zwischen den Wolken hervor, und ein Ausruf des Erstaunens ertönte vom Kai her, als die Silhouette des Drachen mit drei kleinen Gestalten darauf gemächlich vor der weißen Scheibe des Mondes vorüberglitt und der offenen See zustrebte.
Milo sah ihnen nach, dann befahl er den Matrosen lauthals, Klarschiff zu machen. Schließlich verschwand er unter Deck. Nicko und Snorri blieben oben, während das Reinemachen begann.
»Hoffentlich stößt ihnen nichts zu«, flüsterte Snorri.
»Ja, hoffentlich«, erwiderte Nicko.
Sie blickten so lange zum Himmel, bis der Drache als schwarzer Punkt in einer Wolke verschwand und nicht mehr zu sehen war. Als sie sich schließlich abwendeten, war das Deck aufgeräumt, geschrubbt und menschenleer. In dem kalten Wind, der vom Meer herwehte, kuschelten sie sich aneinander und sahen zu, wie die Laternen des Handelspostens erloschen und die Lichterkette, die sich an der Küste hinzog, immer spärlicher wurde, bis nur noch die Fackeln brannten. Sie lauschten den Stimmen, die nach und nach verstummten, bis nur noch das Knarren der Planken, das Glucksen der Wellen und das Sirren der gespannten Taue, wenn der Wind über sie hinwegstrich, zu hören waren.
»Morgen stechen wir in See«, sagte Nicko und blickte sehnsüchtig aufs Meer.
Snorri nickte. »Ja, Nicko. Morgen stechen wir in See.«
Und so blieben sie bis tief in die Nacht sitzen, eingewickelt in weiche Decken, die Milo in einer Truhe an Deck aufbewahrte. Sie beobachteten, wie Stern um Stern hinter den nahenden Wolkenbänken verschwand. Dann rollten sie sich neben dem warmen Ullr zusammen und schliefen ein.
Über ihnen zogen Gewitterwolken auf.